Loading...

Das Denken unterwegs zu sich selbst

Franz Rieder • Der Neuplatonismus   (Last Update: 19.11.2019)

Großen Einfluss auf die Philosophie, mithin die Kunstphilosophie, hatte der Neuplatonismus, entstanden in Rom etwa Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. und verbunden mit dem Namen Plotin und dessen Lehrer Ammonios Sakkas. Wenn wir von der Ausbreitung der christlich-jüdischen Religion ausgehen, wie sie in der patristisch-scholastischen Philosophie ihren ersten Höhepunkt fand, dann finden wir die neuplatonische Philosophie als den wesentlichsten Bezugspunkt, den die sog. Patristiker ausgemacht haben, um ihr Denken mit Elementen der platonischen, der aristotelischen und der stoischen Philosophie zu harmonisieren.

Plutarch (ca. 46 – 120 n. Chr.), Bürgermeister, Priester von Delphi und Freund römischer Kaiser, Philon von Alexandrien (25 v. Chr.- 50 n. Chr.), einflussreicher jüdischer Philosoph, Theologe und wohl der bekannteste Denker des hellenistischen Judentums, Plotin (ca. 205 – 270 n. Chr.), Philosoph, Begründer und bekanntester Vertreter des Neuplatonismus, Porphyrios (233 – ca. 301 n. Chr.), der sich als Bibelkritiker gegen die Authentizität der Bibel als einer göttlichen Offenbarung stellte und mit philosophischen Überlegungen die christliche Lehre als vernunftwidrig erweisen wollte, dazu Proklos (410 – 485 n. Chr.), Platon Kommentator und Leiter der athenischen Stammschule und nicht zuletzt Iamblichos († um 320/325), der in Syrien, wahrscheinlich in Apameia lehrte, sollen hier fürs Erste der Genüge halber genannt werden.

Mal abgesehen von den Verwechslungen der Autorenschaften von Platon und Plotin, die wahrscheinlich auf arabische Übersetzungen zurückgehen, bei denen bekanntlich nur die Konsonanten der Wörter notiert werden und einem schier ungeheuren Eklektizismus, der sich im Neuplatonismus einiger lustvoller Höhen erfreute, findet diese Denkschule in Platons Ideenlehre ihren Ansatz eines strikt hierarchisch geordneten Geisterreichs. Zur Hypostasierung des Missverständnisses der platonischen Ideen wurde dann wohl unter aristotelisch-stoischem Einfluss stehend das Seiende, sofern es sinnlich erfahrbar ist, zu einer neuen Einheit hinzugefügt, in der dann die sinnliche Natur die Schönheit, Güte und Wahrheit des Geisterreichs zur Erscheinung bringt. Insofern der Geist im Sinne des „Logos“ zum Geisterreich gerechnet wurde, betrifft auch ihn das gleiche Schicksal.

Das Reich des Denkens ist im Neuplatonismus klarer und hierarchischer geordnet. Man meinte wohl, dass damit auch Klarheit und rationale Schärfe und mithin Wahrheit erreicht werde. Zuoberst als höchstes Prinzip steht „das Eine“ (griechisch to hen), darunter der überindividuelle Geist oder Intellekt (griechisch Nus), gefolgt vom seelischen Bereich, der den untersten Teil der rein geistigen Welt bildet; unmittelbar darunter beginnt die Sphäre der Sinnesobjekte. Innerhalb der neuplatonischen Philosophie war man sich aber von Beginn an uneins darüber, ob man Platon eher vom Dialog Parmenides oder vom Dialog Timaios lesen sollte. Proklos riet, den Parmenides maßgeblich für die Metaphysik und den Timaios für die Kosmologie zu nutzen und man erhalte so das gesamte platonische Weltbild.

Letztlich aber ging es darum, das Verhältnis von Einheit und Vielheit neu zu bestimmen und den Übergang von Einheit zu Vielheit zu denken. Mit dem Ende des antiken griechischen Denkens blieb und bleibt die Einheit bestimmt als das Ursprüngliche, Ursächliche und daher Höherrangige, die Vielheit bleibt als das aus der Einheit Hervorgegangene aufgefasst. Die Einheit ist allgemein, umfassend und undifferenziert, die Vielheit ist die Menge der aus der Einheit herausgetretenen Einzeldinge.

War die „Einheit“ einst vom bunten Treiben der olympischen Götter beseelt oder von den ewigen Ideen, die auch nicht alle gleich waren, so ist, mit Ausnahme von Porphyrios, das Weltbild der Neuplatoniker beseelt von einem völlig undifferenzierten „Einheitsprinzip“. Das Eine ist ein Prinzip, ein völlig transzendentes, aus dem alles Einzelne hervorgeht und steht im absoluten Gegensatz zum Mannigfaltigen und Differenzierten. Was leitete diese Idee, diesen Seinsentwurf aus einem ewigen obersten Prinzip, einem einfachen, nur mit sich identischen, transzendenten Etwas, das allem, was existiert, also den komplexen, vielfältigen Seienden übergeordnet ist? Es war die Suche nach der Ursache für die Existenz, der Existenzgrund von allem, was ist und damit dem in der Kausalhierarchie Höchsten, von dem alles ausgeht, was ist.

Mittelplatonismus. Auf dem Weg zur Theologie.

Platon und Aristoteles haben dieser Idee den Weg bereitet, wollten aber beide einen anderen Weg gehen. Den des Wissens im Sinne von Wissenschaft, also eines Wissens, das seinen Grund in sich hat und angeben kann, vor „Gericht“, auf dem Areopag, überzeugend durch klare, allgemein einsehbare Argumente in Aussagen vertreten kann.

Der Neoplatonismus hat an der Idee festgehalten, aber den Weg geändert. Er ist den Weg der Theologie gegangen. Aus dieser Sicht kommt dem Einen als oberstem Prinzip die Funktion der vollkommenen höchsten Gottheit zu und die mit dem Gottesbegriff assoziierte „Güte“ Gottes und natürlich auch die Wahrheit als letzte göttliche Instanz. Demgemäß pflegten die Mittelplatoniker das oberste Prinzip mit der Idee des Guten, also dem Guten schlechthin, mit der Wahrheit und mit dem göttlichen Geist, dem nun neuplatonisch bestimmten Nus, gleichzusetzen. So gesehen bildet es die Spitze der wahren geistigen Welt. Wo die platonische Schönheit geblieben ist, werden wir später sehen.

Wie immer in der Geschichte der Philosophie, gab es auch Streit, mindestens strittige Aussagen bei den Mittelplatonikern, als es darum ging, Platons Schöpfergott (den Demiurgen) mit der Idee des Guten, also mit dem höchsten Prinzip zu identifizieren. Aus neuplatonischer Sicht ist eine solche Betrachtungs- und Ausdrucksweise jedoch unangemessen, darf doch das Eine, also das in der Hierarchie höher stehende, nicht mit dem Geist (Nus) gleichgesetzt werden, denn der Geist steht für sie auf der Ebene des Vielfältigen (Geistigen), da er Inhalte und also Differenzen kennt, während das Eine ja völlig undifferenziert ist. So unterscheidet der Mittelplatonismus auch die Verbindung von Geist und Sprache, die Aristoteles noch betonte, als schon die Aussage, etwas sei geistig, bereits eine positive Bestimmung darstellt, die als solche dem absolut undifferenzierten Charakter des Einen, das also auch keine Sprache kennt, sprachlich nicht zu fassen ist, widerspricht. Das Eine kann somit auch keine Idee sein, auch nicht die Idee des Guten, vielmehr ist es dem Geist und allen Ideen übergeordnet.

So fremd diese Seinsphilosophie uns auch erscheinen mag, so radikal gedacht aber ist sie. Denkt man nämlich das Eine als Einheit und Existenzursache und nimmt das Denken mit in die Existenz, dann muss man auch aus dem Blickwinkel des Denkenden das Eine als etwas Höheres und damit Gutes vom Denkenden aus projiziert sehen. Nur aus dieser Perspektive des Denkenden betrachtet – nicht an und für sich – kann es als gut bezeichnet werden. Da das Eine in der Hierarchie des Geistigen gleichzeitig auch jenseits des Denkens ist, muss ihm Denken, Bewusstsein und auch Selbstbewusstsein abgesprochen bzw. diese Bestimmungen als Projektionen des Denkens angesehen werden. Aber es geht noch radikaler. Man kann nach dieser Philosophie (Theologie) nicht einmal wahrheitsgemäß mehr aussagen, dass das Eine überhaupt „ist“, also existiert. Wenn es ist, also existiert, kann es auch nicht sein. Das Sein als Gegenteil des Nichtseins oder das vollkommene Sein im Gegensatz zu einem geminderten Sein (nicht ewig, sondern endlich z. B.) setzt bereits eine Unterscheidung voraus und damit etwas, was dem Einen nachgeordnet ist.

Genau genommen ist auch die Bestimmung des Einen als „Eines“, als einfach oder einheitlich im Sinne eines Gegensatzes zur Pluralität eine Verkennung seiner wahren, gegensatzfreien Natur, über die paradoxerweise überhaupt keine zutreffende positive Aussage möglich ist.

Das Eine ist „unsagbar“ (árrhēton). Man kann nur feststellen, was es nicht ist, also in Negationen aussagen, oder metaphorisch oder allegorisch darüber reden und damit etwas andeuten, was sich nur unzulänglich ausdrücken lässt. Das Eine bleibt einem verstandesmäßigen, diskursiven Begreifen prinzipiell entzogen. Hier berühren sich also der kritische Neuplatonismus und die platonische Philosophie wieder, gleichsam nur eine Stufe höher, abstrakter gesetzt. Abstrakter deshalb, weil das Denken nun radikal seinen logischen Konsequenzen folgt, denkt es zudem Absolutheit.

Denken des Absoluten hat aber nun diese Besonderheit, die auch schon Platon im Verhältnis von Idee und Form bzw. Abbild herausgestellt hat, dass nur verneinende Aussagen über das Absolute, hier das Eine, überhaupt als wahr gelten können. Nach dieser Auffassung hat das Absolute keine positive Bestimmung und insofern die Aussagen über Gott betreffend wird das als „negative Theologie“ auch bezeichnet. Unschwer erkennen wir, wie das Denken sich zunehmend seinen eigenen Abstraktionsvorgängen widmet und nicht eher ruht, bis auch die letzte „Substanz“ daraus verschwunden ist.



Alles wächst zusammen. Nur Verstand und Vernunft nicht.


Proklos ist der erste Philosoph, der die Begriffe Negation (apóphasis) und Theologie miteinander verbindet und dabei auf die logische Stringenz und auf die unüberbrückbare Differenz zwischen dem Logos und dem Absoluten verweist. „Trópos tēs aphairéseōs“i, was nichts anderes heißt als, die Bestimmungen müssen im Denken auf dem Weg zum Einen entfernt werden, ist daher für Proklos auch zwingend. Das Absolute bzw. das Übermaß bezeichneten in der Begrifflichkeit des Guten das Paradies, im Schönen das Erhabene, in der „Logik“ den „grundlosen Grund“, also den Beginn des religiösen Glaubens.

Aber, da das Eine ja jedem Gegensatz entzogen ist, ist es auch nicht als Zusammenfall der Gegensätze im Sinne des erst später entstandenen Konzepts der Coincidentia oppositorum zu begreifen, wie es von Nikolaus von Kues in die Philosophie eingeführt wurde. Ohne dies zu bedenken, wird es schwer, den Seinsentwurf der christlich-jüdischen Religion überhaupt zu verstehen. Bei Nikolaus wird der Verstand strikt von der Vernunft unterschieden. Der Verstand, die Ratio, ordnet das, was dem Menschen mittels Sinne gegeben ist. Die Ratio unterscheidet die Sinneseindrücke, indem sie ordnet, einschließt, ausschließt, nach wichtig und unwichtig vergleicht etc. Ratio negiert, wozu sinnliche Eindrücke nicht in der Lage sind. Man sieht, was man sieht, hört, was man hört. Erst der Verstand grenzt etwas ab, bestimmt es als so oder anders, definiert es mithin. Alles rationale Wissen ist demnach relatives bzw. relationales Wissen und seine Inhalte (Objekte) sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen allen ein relationales Element inhärent ist. An dieser Stelle sei im Vorgriff auf späteres verwiesen, dass auch der Hinweis auf die „Erschlossenheit“ des Daseins, worin die Trennung von Denken und Wahrnehmung aufgehoben sein soll, zwar an sich richtig ist, aber wenig zum Verständnis des Problems von Denken und Sein beiträgt. Mag der Hinweis auch fundamentalontologisch der Versuch sein, die immanente Trennung von Logos und Sein im Denken zu überwinden, bleibt er aber doch die inhaltlichen Ausgestaltungen der ontisch-ontologischen Differenz schuldig.

Was der Verstand nicht kann, so Nikolaus, ist das Absolute oder das Unendliche wie das Ewige erfassen, weil dort im Absoluten keine Relationen, keine Proportionen, keine Gewichtungen bestehen. So blieb natürlich die Frage, wie kann denn der Mensch das Absolute denken, denn er denkt es ja? Dazu verhilft ihm eine besondere Fähigkeit, nämlich die Vernunft, die nach Nikolaus’ Überzeugung weit über dem Verstand steht und über den Verstand weit hinaus geht. Die Vernunft vermag das unterscheidende Negieren des Verstandes, die Differenzierung in Gegensätze nun wiederum selbst zu negieren und so gelangt sie zum Begriff der Unendlichkeit und der unendlichen Einheit, in der die Gegensätze in eins zusammenfallen (koinzidieren).

Nikolaus hat hier Aristoteles im Sinn und formuliert über die Wirkursache, die Formursache und die Zielursache: Nun gehen aber die drei oft in eins zusammen (in lateinischer Übersetzung: (co)incidunt in unum) und da es möglich ist und wenn es diese Koinzidenz gibt, ist dieser Begriff als Vernunftinhalt der Verstandestätigkeit unzugänglich; für den Verstand ist er paradox.

Ein scharfer Verstand wird hier an dieser Stelle einigermaßen verzweifeln und fortan den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft nicht nachvollziehen können. Und Nikolas würde antworten: siehst du, Bruder, du unterscheidest noch. Du näherst dich damit der Vernunft nicht an. Schauen wir uns diese Vernunft genauer an, dann ist sie gerade alles das, was der Verstand nicht ist. Theologisch ausgedrückt ist die unendliche Einheit, das Eine, das Absolute, die Koinzidenz nichts anderes als Gott. Im Sinne der neuplatonischen Tradition ist sie das Eine, der Urgrund des Werdens, den Nikolaus mit der äußersten, indifferenten Einfachheit identifiziert. In Gott können die göttlichen Eigenschaften nicht voneinander verschieden seien. In Gott sind Güte und Weisheit dasselbe, sie sind unterschiedslos als eins zu denken. Nikolaus wendet diesen Grundsatz auf alle Arten von Entgegengesetztem (opposita) an. Aus seiner Sicht sind die Gegensätze in Gott eingefaltet, in der Welt ausgefaltet, womit man auch die Beziehung zwischen Einheit und Vielheit schön und annähernd in einem Bild vergegenwärtigt hat; die zahllosen Triptychen mit liturgischen Szenen sprechen davon.

Die Coincidentia oppositorum ist für Nikolaus so wichtig, dass er in die Einheit der Gegensätze paradoxerweise ausdrücklich auch die kontradiktorischen (widersprüchlichen) Gegensätze mit einbezieht. Diese kontradiktorischen Widersprüche aber sind genau die Denkfiguren, die einander nach dem aristotelischen Satz vom Widerspruch ausschließen. Etwas kann nicht gleichzeitig sein und nicht sein. Selbst die Gültigkeit dieses Satzes beschränkt Nikolaus auf den Bereich der Verstandestätigkeit; jenseits dieses Bereichs, also in der „Vernunft Gottes“ hebt er die Beschränkung des Denkens durch das Verbot des Widerspruchs auf, sind gerade diese Beschränkungen negiert, zusammen gegangen. Damit wendet er sich dezidiert und expressis verbis gegen Aristoteles und die mittelalterlichen Aristoteliker, die den Widerspruchssatz als Grundprinzip aller Wirklichkeit und die Wirklichkeit erfassenden Denkens betrachteten.


Anmerkungen:

i „Vorgehensweise des Entfernens“, Proklos, In Platonis Parmenidem 1128



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



zurück ...

weiter ...




Ihr Kommentar


Falls Sie Stellung nehmen, etwas ergänzen oder korrigieren möchten, können sie das hier gerne tun. Wir freuen uns über Ihre Nachricht.